Das Bundesverfassungsgericht hat die Verfassungsbeschwerde einer Arbeitnehmervereinigung, die sich dagegen wehrte, dass ihr auf Antrag konkurrierender Gewerkschaften und einiger Bundesländer die Tariffähigkeit von einem Arbeitsgericht aberkannt worden war, nicht zur Entscheidung angenommen.
Die Arbeitnehmervereinigung, die zunächst für Kaufmannsgehilfen gegründete worden war, beanspruchte zuletzt eine Tarifzuständigkeit in unterschiedlichen Branchen und Berufen, wie u. a. Banken, Einzelhandel, gesetzlichen Krankenkassen, Versicherungsgewerbe, Fleischindustrie, IT-Dienstleistungen, Wirtschaftsprüfung, Anwaltschaft und Reiseveranstaltung. Nach eigenen Angaben hatte sie Anfang des Jahres 2020 in einem Bereich, in dem etwa 6,3 Millionen Beschäftigte organisiert sind, selbst 66.826 Mitglieder. Auf Antrag mehrerer konkurrierender Gewerkschaften sowie der Bundesländer Berlin und Nordrhein-Westfalen entschieden die Arbeitsgerichte, der Vereinigung die Tariffähigkeit abzuerkennen. Dieses wurde damit begründet, dass es der Vereinigung an der erforderlichen Durchsetzungsfähigkeit fehle, um sie als Tarifpartei anzuerkennen. Hiergegen wendet sich die Beschwerdeführerin mit ihrer Verfassungsbeschwerde, die damit begründet wurde, dass die Arbeitsgerichte ihr Grundrecht der Koalitionsfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 GG verletzten, die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung und den im Rechtsstaatsprinzip verankerten Bestimmtheitsgrundsatz missachteten, denn höchstrichterliche Rechtsprechung sei kein Ersatzgesetzgeber.
BVerfG: Verfassungsbeschwerde teilweise unzulässig – Substantiierte Auseinandersetzung fehlt
Die Verfassungsbeschwerde ist teilweise unzulässig. So fehlt die hinreichend substantiierte Auseinandersetzung damit, dass die Gerichte für Arbeitssachen nicht nur befugt, sondern sogar gehalten sind, die Tariffähigkeit im Lichte des Art. 9 Abs. 3 GG näher zu fassen. Dieses gelte, wenn und solange der Gesetzgeber die Voraussetzungen für die Gewerkschaftseigenschaft nicht regelt. Aus den Darlegungen ergibt sich auch nichtr, dass das Bundesarbeitsgericht über das verfassungsrechtlich zulässige Maß der Rechtsfortbildung hinausgegangen wäre.
Rechtsprechung des BAG zu Mindestvoraussetzungen tariffähigen Arbeitnehmervereinigung bestätigt
Auch in der Sache verletzen die arbeitsgerichtlichen Entscheidungen die Rechte der Beschwerdeführerin aus Art. 9 Abs. 3 GG nicht. Die Einwände gegen die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zu den Mindestvoraussetzungen einer tariffähigen Arbeitnehmervereinigung greifen nicht durch. Insbesondere beurteilt das Bundesarbeitsgericht die Organisationsstärke im Wege einer grundrechtsfreundlichen Gesamtwürdigung. Es verzichtet auf starre Schemata, wie etwa prozentuale Schwellenwerte, um den sich stetig verändernden Wirtschafts- und Beschäftigungsstrukturen gerecht werden zu können.
BAG darf von Tariffähigkeit als Voraussetzung für Tarifabschlüsse ausgehen
Zudem geht das BAG davon aus, dass es ausreicht, wenn in einem nicht unwesentlichen Teil des Zuständigkeitsbereiches einer Gewerkschaft ein signifikanter Organisationsbereich vorliegt und dieses nicht in jedem Bereich erforderlich ist. Dabei berücksichtigt das Bundesarbeitsgericht die große Zahl sehr unterschiedlich zusammengesetzter, ökonomisch unterschiedlich situierter und rechtlich unterschiedlich verfasster Gegenspieler. Die für die Tariffähigkeit erforderliche Durchsetzungskraft könne durch Tarifabschlüsse, die in einem nennenswerten Umfang und mit einer gewissen Kontinuität erreicht werden, belegt werden. Diese Indizwirkung sinkt gleichwohl, je geringer der Organisationsgrad im beanspruchten Zuständigkeitsbereich ist und verliert jede Aussagekraft, wenn die Gewerkschaft selbst ihre Zuständigkeit umfassend ändert. Es ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn das Bundesarbeitsgericht damit davon ausgeht, dass die Tariffähigkeit nicht durch Tarifabschlüsse entsteht, sondern eine Voraussetzung für diese ist.
Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 31.05.2022 – 1 BvR 2387/21 –